Henri Nannens Herzstücke in Tübingen
Pressebericht SportKultur
Ich habe das gesammelt, was mich bis unter die Haut schmerzte, mich freute oder mich auch wütend gemacht hat.“ Diesen Satz schrieb Henri Nannen (1913-1996), Gründer und langjähriger Chefredakteur des Magazins „Stern“ einst über seine Sammelleidenschaft. Siebzig ausgewählte Leihgaben der von Nannen gestifteten Kunsthalle Emden waren bis vor Kurzem in der Kunsthalle Tübingen zu bestaunen. In einem wahren Parcours führte die äußerst versierte Kunstvermittlerin Gabi Eisensteck-Heller eine Gruppe Kunstinteressierte der SportKultur Stuttgart durch die sehenswerte Ausstellung mit dem Schwerpunkt expressiver Kunst des 20. Jahrhunderts.
Vor ausgesuchten Werken der Künstler Franz Marc, Emil Nolde, Otto Müller, Francis Picabia u.a., konnte den Besuchern aus Stuttgart der Kunststil anschaulich vermittelt werden. Bei der Beschäftigung mit der Emotionalität des Expressionismus werden die Höhen und Tiefen im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts regelrecht nacherlebbar. Nicht umsonst wird dieser Kunststil als „Kunst des gesteigerten Ausdrucks“, also des innersten Empfinden definiert. Die Wirklichkeit wir von den Expressionisten nicht naturgetreu wiedergegeben, stattdessen wird mit kräftigen Farben und oft groben Pinselstrichen von den Malern eine abstrakte Interpretation mit Auflösung der gewohnten Perspektive konstruiert. Die Bilder entstanden im Zeitraum von etwa 1905 bis zum Ende der 1920-er Jahre, einer Zeit von massiven gesellschaftlichen Umbrüchen. Die fortschreitende Industrialisierung förderte die Verstädterung und damit die Auflösung gewohnter gesellschaftlicher Strukturen. Der erste Weltkrieg brachte Armut und Elend mit sich. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie war die politische und gesellschaftliche Unsicherheit groß. Neues suchte seinen Platz, Altes, längst Überkommendes wollte nicht immer weichen.
Beispielhaft für den Expressionismus ist das Lieblingsgemälde Henri Nannens, sein Herzstück, „Die blauen Fohlen“, 1913 gemalt von Franz Marc (1880-1916). Der Künstler meinte, mit diesem Bild sich in „das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen und Tieren“ einzufühlen. Von Emil Nolde (1867-1956) ist u.a. der ausdrucksstarke „Bauernhof“ von 1924 zu sehen. Obwohl Anhänger des Nationalsozialismus, wurden seine Bilder im Dritten Reich als entartet eingestuft. Die sich verändernden, liberaleren Moralvorstellung zeigen sich treffend in „Knabe vor zwei stehenden und einem sitzenden Mädchen“ von Otto Müller (1874-1930). Nacktheit wird in dem 1918/1919 gemalten Meisterwerk ohne Scheu und erhobenem Finger gezeigt. Französischer Vertreter des Expressionismus ist Francis Picabia (1879-1953). Mit „Aux Bords de la Creuse/Soleil d‘ Automne“ vom 1909 ist ein abstraktes Landschaftsgemälde zu sehen gewesen, das die „Kunst des gesteigerten Ausdrucks“ in typischer Ausprägung zeigt.
Text und Foto: Norbert Klotz