Widdersteinstraße – „boulevard of broken dreams“ – „Das ist der Widdersteinstraßen – Blues“
Widdersteinstraße – „das schlechtestes Ortszentrum der Stadt Stuttgart!“ Diese traurige Meldung konnte man schon voriges Jahr der Lokalpresse entnehmen. Der Kampf gegen den Ladenleerstand sei mühsam, ein massiver „Trading-down-Effekt“ nicht zu übersehen. Die Fortsetzung des Kampfes mit theatralischen Mitteln konnte man am vergangenen Wochenende in der Untertürkheimer Sängerhalle erleben: Die Untertürkheimer Sopranistin Renate Brosch, im Kulturhausverein aktiv und in Untertürkheim bekannt für ihre ungewöhnlichen Veranstaltungsideen, hatte das Thema aufgegriffen und eine hinreißende musikalische Komödie auf die Bühne gebracht, flankiert von der Bühnenbildnerin Marlene Blumenstock, die eine umwerfende Kulisse dazu gemalt hat: die leeren Läden der Widdersteinstraße mit der sarkastisch anmutenden Überschrift „Einkaufsspass“.
Den hatten die verbliebenen Anwohnerinnen und Anwohner nach einer imaginierten Schließung des letzten Ladens, respektive die Sängerinnen und Sänger des Gesangstudios Renate Brosch, wahrlich nicht mehr.
Dieses Horrorszenario war die Steilvorlage für eine über zweistündige, äußerst unterhaltsame Bühnenshow. Konsumfrei war das Motto: Da gab es den verarmten Pianisten Karl-Friedrich Schäfer, der als Akkordeonist seine Tage auf der ausgestorbenen Widdersteinstraße fristet, die eiligen Berufstätigen, die nur noch durch die Straße huschen und achtlos ihre „Coffee-to-go“Becher fallen lassen, da gab es den UHT-Päckchenboten, der die Online-Päckchen über die Bühne schleppt.
Sehr witzig war eine von Petra Fogl angeführte Yogagruppe „Hartz IV-in-Bewegung“, die ihr geliebtes Yogastudio geschlossen vorfindet. Da gab es einen unermüdlichen und vergeblichen Kehrwöchner, einen skurrilen Bauausschuss mit dem waghalsigen Plan, die Widdersteinstraße als „Klein-Venedig“ mit Neckarwasser zu fluten. Eine besonders vorwitzige Schülerin (Frieda Schwenk) provoziert den AfD-Bürgermeister mit einem Song aus Ghana. Transitreisende versuchen vergeblich, im Untertürkheimer Bahnhof einen Aufenthaltsraum zu finden: längst ist Stuttgart 21 nach einer hydrologischen Katastrophe Makulatur und Untertürkheim der neue Hauptbahnhof.
Eine reiche Amerikanerin taucht auf, die am Schluss auf offener Straße vom Kehrwöchner ermordet wird, weil sie die ganze Widdersteinstraße an Investoren verkauft hat. Davor gibt es noch eine Straßendemo, angeführt von Andrea Nicht-Roth, einer Untertürkheimer „Bunt-statt-grau“-Aktivistin.
Das Feuerwerk an brillant-skurrilen Ideen wird musikalisch kräftig unterfüttert: da gab es alles von Monteverdis subtilem Duett „Interrotte speranze“ über dramatische Szenen aus Mozart-Opern (köstlich und stimmlich sehr potent die drei Damen der Königin der Nacht als die weibliche Bürgerwehr „Widderstein-Witches“ mit Elisabeth Charlotte Nusser, Sabine Hanneforth, Babette Winkelmann) bis hin zu „Boulevard of Broken Dreams“ von Green Day am Schluss als aufgerautem Punk-Song mit Bachtr Ahmad als überzeugendem Solisten.
Die Schülerinnen und Schüler von Renate Brosch – obwohl keine professionellen Sänger – sangen auf hohem Niveau und durchaus mit professionellem Anspruch, wobei die Rollen und sängerischen Anforderungen so maßgeschneidert präsentiert wurden, dass man der erfahrenen Pädagogin ein Kompliment machen muss. Besondere Highlights waren Thilo Ederle als Bürgermeister mit überzeugender Bassbuffo-Stimme, Sophia Marheineke als verwöhntes Wohlstandtöchterchen mit jugendlich klarer Sopranstimme, Astrid Toenniessen als Sopran-Koloratur-Akrobatin, Jürgen Ankele mit romantischem Tenorschmelz, nicht zuletzt Renate Brosch selbst mit Georg Kreislers beißend-satirischem Song „Gelsenkirchen“, der Parallelen aufzeigte zwischen dem 60er-Jahre-Kohlestaubparadies und dem heutigen Feinstaubparadies Stuttgart.
Das Duo Ännie & Jogs (als Gast) sorgte zwischendurch für entspannte Swing-Atmosphäre, zu der auf der Bühne die Widdersteintraßen-Anwohner lässig-tanzend chillen konnten, immer wieder gab es einen Blick in die leeren Ladenschaufenster der Kulissen: Konsum, der „moderne Kulturersatz“, den gab es halt nicht mehr. Besonderen Beifall gab es noch für Karl-Friedrich Schäfer, der in seiner Dreifachfunktion als Schauspieler-Akkordeonist-Pianist omnipräsent war.
Kulturhausverein Untertürkheim e.V.
Foto von Klaus Enslin >> mehr Fotos hier <<