Pressemitteilung der SSB
Ob hinter dem Lenkrad eines Busses, am Fahrhebel eines Stadtbahnwagens oder auch am Fahrerplatz eines Triebfahrzeuges der Eisenbahn: Längst ist es auch dort alltäglich, weibliche Hände bei der Arbeit zu erblicken. Doch bis zu dieser Selbstverständlichkeit war es ein weiter Weg. Sein Beginn und Anlass liegt – eigentlich makaber – in der Spätphase des Ersten Weltkrieges, also vor hundert Jahren. Am Beispiel der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) lässt sich aufzeigen, wie die Entwicklung verlief. Nicht nur Stuttgarterinnen mussten damals die Männerbastion stürmen. Selbst aus Nußdorf im Strohgäu – und bestimmt nicht nur von dort – halfen resolute Frauen, die Mobilität in der Landeshauptstadt aufrechtzuerhalten.„Gegen Ende des Berichtsjahres sahen wir uns genötigt, auch für den Wagenführersdienst weibliche Hilfskräfte auszubilden und zu verwenden“ – diese gedrechselte Formulierung aus dem Geschäftsbericht der SSB für 1917 ist fast der einzige, aber eindeutige Nachweis, dass das damals privatwirtschaftliche Stuttgarter Verkehrsunternehmen erstmals Frauen nicht nur für untergeordnete Zwecke anheuerte, sondern auch für die „Spitzenposition“ an erster Stelle im Straßenbahnwagen. Mit rund 560 Mitarbeiterinnen stellte das weibliche Geschlecht in jenem Jahr bereits mehr als ein Drittel der gesamten Belegschaft von etwa 1570 Personen. Davon erschien zwar nur ein fast verschwindend kleiner Teil, nämlich 19 Damen, unter der Rubrik „weibliche Wagenführer“, und mehr waren es wohl auch vorher und nachher nicht.Den Dienst als Schaffnerinnen versahen seinerzeit allerdings schon fast 500 Frauen, was nichts anderes heißt, als dass in jenem dritten Kriegsjahr die Ausgabe der Fahrscheine im Wagen bereits fast ausschließlich von Frauenhand geschah. Im Vorjahr, 1916, gab es noch nur halb so viele Schaffnerinnen, während 22 Frauen im internen Dienst in den Depots die Wagen reinigten. Einzug gehalten hatte die Beschäftigung von Frauen bei der SSB im Mai 1915, also weniger ein Jahr nach Beginn des großes Krieges, als „versuchsweise“, wie es hieß, sowohl Schaffnerinnen wie Wagenputzerinnen erstmals eine Lohntüte der SSB bekamen. Dieser Anfang genügte bald nicht mehr: „Wenn man glaubte, weibliche Dienstleistungen auf den Schaffner- und Halledienst beschränken zu können, so war dabei nicht auszukommen“, entsann sich vierzig Jahre später Paul Loercher, seit der Jahrhundertwende technischer Direktor der SSB: „Die Verwendung von Frauen auch im Führerdienst war nicht zu umgehen.“
Der Grund war der enorme Personalmangel durch den Kriegsausbruch, als das Heer zunächst drei Viertel des Mitarbeiterbestandes zu den Fahnen gerufen hatte. Hastig musste die SSB in der Folge versuchen, die Lücken bei der Kopfzahl irgendwie aufzufüllen, zumal auf Geheiß der Stadt alsbald der Normalfahrplan wieder eingeführt werden musste. Wählte die SSB zunächst gezielt die Ehefrauen oder volljährigen Töchter einberufener oder gar „im Felde“ umgekommener Straßenbahner aus, wovon man sich offenbar ein Grundverständnis für die Belange des rollendes Rades versprach, musste die Direktion schon ab 1916 nehmen, was Füße besaß, unabhängig vom Beruf des Partners. Zudem stieg der Straßenbahnverkehr in Stuttgart während des Krieges mächtig an, man brauchte so oder so mehr Personal.
(K)ein anderer Maßstab
Hieß es im Geschäftsbericht für 1915 zunächst, dass „naturgemäß an die Leistung der Frauen ein anderer Maßstab anzulegen sei“ – welcher, wurde nicht genannt -, so kam die Geschäftsführung schon bald zu der günstigen Überzeugung, dass „der Versuch doch befriedigend“ verlaufe. Anfangs wurden die Schaffnerinnen nur zum Dienst auf den Beiwagen zugelassen, später mussten sie auch den Begleitdienst auf dem Motorwagen übernehmen. Die Tätigkeit als Fahrerin, so äußerte sich eine der betreffenden Damen später gegenüber ihrem Sohn, übte sie allerdings – auf gut schwäbisch gesagt – „viel gerner“ aus denn als Billetverkäuferin, weil man vorne an der Kurbel weniger in buchstäbliche Tuchfühlung mit den Fahrgästen kam als im überfüllten Inneren des Gefährts. Direktor Loercher resümierte 1957 aus seiner Sicht: „Es war erstaunlich, dass viele Frauen in der Lage waren, nach einigen Tagen Ausbildung selbständig den Führerdienst zu absolvieren. Nicht wenige haben es fertiggebracht, nach drei Tagen die Führung des Wagens zu übernehmen, zunächst auf einigen Linien und nach kurzer Zeit auch auf den übrigen.“
Im Vergleich zu heute, wo technische Hilfen den Fahrdienst enorm erleichtern, erforderte die Tätigkeit am Fahrerstand einer Straßenbahn vor hundert Jahren vor allem Muskelkraft und robuste Kondition – das galt besonders in einer bergigen Stadt wie Stuttgart. Denn es gab noch lange keine Druckluftbremse, vielmehr musste das Gewicht des zwanzig oder dreißig Meter langen Straßenbahnzuges, meist mit Fahrgästen ausgelastet bis unter das Dach, von Hand heruntergebremst werden – vor jeder Haltestelle und stetig auf den langen Gefällestrecken: „Die rechte Hand hatte die mechanische Handbremse zu bedienen, jene ungefüge Kurbel, die nur mit großer Kraftanstrengung herumzuholen war und immer gleich mit der vom rechten Fuß betätigten Sperrklinke oder Rätsche gehalten werden musste“, so schilderte der Sohn einer damaligen Straßenbahnerin später die Erzählungen seiner zu jener Zeit dreißigjährigen Mutter. „Beim Anfahren war die Bremse mit Gegendruck und Betätigung der Sperrklinke zu lösen, was Schwerarbeit war“ – die Bremswirkung des elektrischen Motors durfte damals nur in Gefahrensituationen genutzt werden.
Auch parallel mit der linken (!) Hand den elektrischen Fahrschalter zu bedienen, ein schon von seiner Größe her Ehrfurcht gebietender massiver Messinghebel, bei dem die Fahrstufen auch unter Stress stets jede einzeln exakt geschaltet werden mussten, um technische Schäden zu vermeiden, sorgte schon alleine für ausreichenden körperlichen Einsatz – der selbstverständlich den ganzen Tag (und im Schichtdienst fast die ganze Nacht!) im Stehen geleistet werden musste. Denn auch von der Einführung „verweichlichender“, womöglich körpergerechter Fahrersitze war man noch Jahrzehnte entfernt. Nicht zu vergessen war das Weichenstellen von Hand mit dem bekannten schweren Eisenstab mit Griff, dem Berufswahrzeichen der Straßenbahner, den man vorne am Wagen aus dem Fenster halten und kraftvoll einsetzen musste.
Kartoffeln, Kohlen, Krankenbahren
Dieser fahrende Arbeitsplatz war gering gefedert und völlig ungeheizt. Und spätestens 1917 war wegen des Krieges auch in der Heimat flächendeckend der gravierende Mangel an allen Dingen des täglichen Bedarfs ausgebrochen, zuallererst bei der Ernährung: Schlechtes Brot, dünne Suppen, wenig Vitamine, buchstäblich weder Fisch noch Fleisch gehörten ebenso zu den düsteren Begleitumständen wie kaum geheizte Wohnungen, abgewirtschaftete Kleidung und eine massive Teuerung der Lebenshaltung. Zwar zahlte die SSB – wie andere Betriebe auch – eine Kriegszulage, doch das mochte mancher jungen Kriegerwitwe, die Kinder zu versorgen hatte, ein geringer Trost sein, zumal es für das Mehr an Geld erst recht noch weniger an verfügbarer Ware gab und die Inflation alsbald zunahm. Wer krank wurde, tat gut daran, seine Dinge zu regeln, denn für die geschwächten Körper konnte schon eine Grippe lebensgefährlich werden – weit weg von der Front, mitten im heimeligen und damals unzerstörten Stuttgart, war es nicht schwer, Vollwaise zu werden.
Dazu kam, dass die Fahrgastzahlen der SSB während des Krieges atemberaubend stiegen: Wurden im Friedensjahr 1913 noch 53 Millionen pro Jahr gezählt, so waren es 1918 doppelt so viele, auf einem Streckennetz von 73 Kilometern (heute, 2017, sind es knapp 180 Millionen Fahrten auf rund 130 Bahnkilometern – das ist pro Kilometer umgerechnet fast die gleiche Auslastung). Nicht genug damit: Weil Pferde und die wenigen Automobile ebenfalls zum Barras einberufen waren, musste die Straßenbahn auch noch den Güterverteilerverkehr zwischen den Bahnhöfen der Eisenbahn und den Stadtvierteln übernehmen. Große Kipp- und Kastenloren wurden eilends beschafft, die SSB bastelte selbst zwei rustikale Gütermotorwagen, Güterumladegleise entstanden am Westbahnhof, zur Industrie und den Kraftwerken. Der Transport von Gemüse und Obst aus den Vororten in die City, zur Eigenversorgung lebenswichtig, wurde vervielfacht.
150 Tonnen täglich, aufs Jahr gerechnet 50 000 Tonnen, ob Kohle, Kartoffeln, Haushaltswaren oder der so wichtige Zucker, reisten per Schiene an – das ist eine Jahrestonnage, die heute auch für eine moderne regionale Eisenbahn respektabel wäre. Wohl und Wehe der Stuttgarter Einwohner, Ernährung und Schutz vor dem Erfrierungstod, hingen nun von der Straßenbahn ab. Es ist beinahe ein Rätsel, wie die SSB, ihre verbliebenen männlichen und die weiblichen Mitarbeiter ein solches zusätzliches Transportvolumen auch noch bewältigten. Dazu kam schon nach den ersten Kriegstagen ein humanitäres „Transportgut“ besonderer Art: Verwundete Soldaten waren von der Front in die Stuttgarter Krankenhäuser zu führen. Die Straßenbahn erwies sich dafür wesentlich schonender als holprige Fuhrwerke, so dass die flachen Marktwagen, bisher dem Rettichtransport dienend, nun die Krankenbahren aufnehmen mussten. Welche Gefühle besonders die weiblichen Mitarbeiter der SSB bewegten, wenn schwerverletzte, amputierte oder entstellte Männer in den angehängten Wagen lagerten, womöglich Bekannte oder Verwandte, lässt sich vorstellen. Dass manche dieser „Fahrgäste“ schon während des Umladens oder direkt vor dem Krankenhaus diskret „umsortiert“ wurden, weil es inzwischen für Arzt wie Pfarrer zu spät war, liegt auf der Hand. Seelischen Beistand für die Beschäftigten gab es nicht, der Krieg forderte auch in der Heimat stetige Robustheit des Gemüts.
Krieg aus – Frauen raus
Nach Kriegsende 1918 stellte sich nicht nur bei der SSB sehr schnell der „Normalzustand“ wieder ein: Die ins Geschäftsleben zurückkehrenden männlichen Kollegen – ein Zehntel davon war ums Leben gekommen – übernahmen sofort wieder das Zepter, sprich an erster Stelle den Wagenfahrdienst und auch rasch die Schaffnertätigkeit. Auch aus dem Innendienst wurden die Frauen gleich wieder verdrängt, waren die Männer doch nun froh über jeden zivilen Arbeitsplatz. Im Zweiten Weltkrieg wiederholten sich die Abläufe ähnlich, nur dass nun die Damen, der Ideologie entsprechend, auch bei der Straßenbahn nur noch Dienst als Hilfskräfte leisten durften – „Führerinnen“, selbst am Steuer einer Straßenbahn, waren nunmehr undenkbar. Kurioserweise war es ein gültiger Erlass aus der Nazizeit, der auch in der Bundesrepublik noch über zwei Jahrzehnte lang verhinderte, dass zum zweiten Male – und nun endgültig – die Ära der Damen am Straßenbahnfahrpult, also auch bei der SSB, erneut begann. 1972 wurden in Stuttgart erstmals wieder Fahrerinnen auf der Schiene ausgebildet, und heute wäre der Fahrbetrieb ohne Frauen undenkbar (bei der Stadtbahn liegt der Anteil heute etwa bei 13 Prozent).
Der Erste Weltkrieg mit all seinen grausigen Folgen hatte aber nicht nur Frauen an die Reglerhebel von Schienenfahrzeugen gebracht: Auch an anderer Stelle in Industrie, Technik und Produktion, in Organisation und Führung mussten sie ihren „Mann“ stehen, sie hatten – wohl oder übel, aus Mangel an Kleidung, Kosmetik und Zeit und schlicht, weil es praktisch war – erstmals buchstäblich die Hosen angezogen, ihre Frisuren radikal und pflegeleicht verändert, und wenn es nichts zu essen gab, das Rauchen angefangen.
Auch diese Errungenschaften wanderten nicht mehr in die Schublade der Geschichte: Die Mode der 1920er Jahre, mitsamt dem saloppen „Bubikopf“, die neue, auch dominante Rolle der Frau, sei es mit Schlips und Sakko, als männerverschleißender „Vamp“ in Film und Kunst, sprachen Bände. Zwar ließ die gesellschaftliche und gar berufliche Gleichstellung noch lange auf sich warten. Doch die radikale arbeitsteilige und in gewissem Maß soziale Gleichschaltung der Geschlechter im Ersten Weltkrieg hatte für die spätere Gleichberechtigung gewissermaßen die kollektive Generalprobe abgegeben.
Vom Strohgäu nach Stuttgart
Dass vor einem Jahrhundert unerschrockene Frauen aus Stuttgart den Stellenangeboten der SSB folgten, wundert wohl nicht. Heimatforscher Erwin Gayer aus Eberdingen-Nußdorf, am Südwestrand des Kreises Ludwigsburg, hat jedoch historische Fotos zutage gefördert, die zeigen, dass auch zumindest zwei Damen aus dem Örtlein in den Ausläufern des Strohgäus, über 30 Kilometer von der Landesresidenz entfernt, zum Fahrdienst in die Schwabenhauptstadt ausrückten. Zu Fuß zum Bahnhöfle Enzweihingen, von dort per Eisenbahn nach Stuttgart – natürlich nur einmal zur Anreise, dann blieb man dort – war dies keineswegs aus der Welt.
Von einer der Nußdorferinnen ist sogar der Name bekannt: Martha Fuchs hieß die Dorfbewohnerin, die sich offenbar erfolgreich anschickte, die ihr zuvor wohl völlig unbekannten Schienenfahrzeuge durch das Menschengetümmel im Nesenbachtal zu navigieren. Gayer hat herausgefunden, dass die damals ledige Schwäbin einen Schmied zum Bruder hatte – so war ihr der handfeste Umgang mit schwerem Eisengerät und großen Fahrzeugen zumindest vom Zuschauen her sicherlich vertraut. Und die Möglichkeit, als junge unverheiratete Frau in einer durchaus verantwortungsvollen Tätigkeit eigenes Geld zu verdienen, dürfte seinerzeit auch sowohl selten wie interessant gewesen sein, sich in das Abenteuer ‚auf Schienen der Großstadt‘ zu stürzen.
„Nernbercherin“ spontan auf Tour
Auch aus Nürnberg – und sicherlich aus den meisten anderen „Straßenbahnstädten“ – ist der Einsatz von Frauen als Straßenbahnfahrerinnen im Ersten Weltkrieg bekannt: Als im Jahr 1977 der dortige Stadtverkehrsbetrieb den historischen Wagen 701 wieder herrichtete, meldete sich freudig die damals 81-jährige Nürnbergerin Frida Geiß mit dem Hinweis, sie habe auf diesem Wagen von 1917 bis 1919 regelmäßig Dienst getan, also als etwa 24-jährige. Geiß wurde von den Verkehrsbetrieben der Frankenmetropole zu einer „Probefahrt“ eingeladen und nutzte gerne spontan die Gelegenheit „zur Fahrt über eine längere Strecke“. Alle Beteiligten – so meldete die Presse vor 40 Jahren – „waren vom Fahrkönnen überrascht und voll zufrieden.“
Hans-Joachim Knupfer/SSB AG
Quellen:
Geschäftsberichte der SSB AG, 1915 – 1918
Über Berg und Tal, Mitarbeiterzeitschrift der SSB AG, Ausgaben 1/1957,5/1963, 6/1963 und 3/1965
Esslinger Zeitung, 29. Juli1977
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